Teile des Frühmittelalters sind eine Fälschung — wohl die meisten Menschen, die diese These zum ersten Mal hören, reagieren spontan ablehnend. Doch dann liest man Texte von Heribert Illig, und man kommt vielleicht ins Nachdenken, ob man die These vom erfundenen Mittelalter vorschnell abgelehnt hat, weil sie auf den ersten Blick so weit hergeholt und unwahrscheinlich erscheint. Ich möchte hier jedoch einen tieferen Blick auf Illigs Argumente werfen und damit einige Hinweise geben, warum man kritisch mit der Behauptung umgehen sollte.

Der folgende Text erschien als Beitrag im Skeptiker (2/2001) im Zusammenhang einer kritischen Diskussion mit Heribert Illig und Dieter Herrmann über Illigs „Phantomzeit“-Hypothese. 

Einleitender Kommentar der Redaktion

In Skeptiker 4/00 diskutierte der Astronom Dieter Herrmann die These des Sachbuchautors Heribert Illig, die Jahre zwischen 614 und 911 seien erfunden und gingen auf eine Geschichtsfälschung des Hochmittelalters zurück. Herrmann kam dabei anhand von historischen Sonnenfinsternisbeobachtungen zu dem Schluss, „dass die zeitliche Abfolge des Geschichtsverlaufs durch antike Sonnen- und Mondfinsternisse gesichert ist“. Im Folgenden widerspricht Heribert Illig den Argumenten Herrmanns, bekräftigt nochmals seine Argumentation und fordert die Mediävistik auf, sich dem von ihm vorgebrachten Problem zu stellen. Abschließend geht Skeptiker-Redakteur Stephan Matthiesen kritisch auf die in Illigs Text aufgeführten Punkte ein und versucht eine Antwort, warum von Seiten der Mittelalter-Forschung inzwischen nur noch schwer Stellungnahmen zu erhalten sind.

Erfundenes Mittelalter — furchtbare oder fruchtbare These?
Heribert Illig

In Skeptiker 4/00 hat Prof. Dieter B. Herrmann — so seine Aussage in der Zusammenfassung — den Nachweis geführt, „dass die zeitliche Abfolge des Geschichtsverlaufs durch antike Sonnen- und Mondfinsternisse gesichert ist“ (Herrmann 2000b). Deshalb lehnt er meine These ab, der zufolge 297 Jahre des frühen Mittelalters (614–911) eine Erfindung des eigentlichen Mittelalters seien. Ich will hierauf antworten und dabei einige Richtigstellungen vornehmen.

Anmerkung: Ich verzichte hier aus rechtlichen Gründen auf den vollständigen Text von Heribert Illig, doch seine Argumente sind an vielen anderen Stellen publiziert, sodass die Bezüge in meinem Text dennoch verständlich bleiben dürften.

Erfundenes Mittelalter — fruchtlose These!
Stephan Matthiesen

Teile des Frühmittelalters sind eine Fälschung — wohl die meisten Menschen, die diese These zum ersten Mal hören, reagieren spontan ablehnend. Doch dann liest man Texte von Heribert Illig wie den ab S. 70 abgedruckten, und man kommt vielleicht ins Nachdenken, ob man die These vom erfundenen Mittelalter vorschnell abgelehnt hat, weil sie auf den ersten Blick so weit hergeholt und unwahrscheinlich erscheint. Immerhin macht er im dritten Abschnitt die behauptete Fundleere des Frühmittelalters an konkreten Beispielen anschaulich, und die Vielzahl astronomischer Überlegungen vermittelt den Eindruck, dass der Autor sich seine Sache sehr gut überlegt hat: Ein Text durchaus nicht ohne Überzeugungskraft. Ich möchte im Folgenden jedoch einen tieferen Blick auf die in diesem Text genannten Argumente werfen und damit einige Hinweise geben, warum man kritisch mit der Behauptung umgehen sollte.

Zunächst ein paar Worte zur Vorgeschichte dieses Artikels. Kurz nach Erscheinen von Heft 4/2000 erreichte uns der Text Illigs, und die Skeptiker-Redaktion war durchaus interessiert, ihn abzudrucken — zusammen mit einer Stellungnahme eines Historikers, der auf die historischen Argumente eingehen sollte. Mögliche Autoren schienen zunächst kein Problem, hatten doch bereits einige Historiker zu den Thesen Stellung genommen, wie Illigselbst im ersten Absatz des obigen Textes berichtet (wobei er allerdings zu erwähnen vergisst, dass sie sich fast ausschließlich ablehnend äußerten). Einige hatten damals die ernsthafte Auseinandersetzung auch als didaktisch wichtig bezeichnet. Doch die konkrete Autorensuche gestaltete sich schwierig, und alle angesprochenen Historiker erteilten uns pauschale Absagen wie: „Mit Herrn Illig setze ich mich nicht mehr auseinander!“. Damit stellt sich für mich auch die interessante Frage, wie es zu diesem Meinungsumschwung kommt. Wohlgemerkt, Unterstützung aus der professionellen Geschichtsforschung konnte Illig niemals vorweisen, aber weshalb ist inzwischen sogar die Bereitschaft verflogen, diese Thesen auch nur anzuhören?

Die Sonnenfinsternisse des Hydatius

Papst Leo und Attila
Abb. 1: Dass sich Bischof Hydatius in seiner Chronik beim Antrittsjahr von Papst Leo I. (links, zu Pferde, bei der Begegnung mit Attila) um sieben Jahre vertat, wertet Heribert Illig als Indiz für eine hochmittelalterliche Fälschung. (Bild: Wikipedia)

Sehen wir die Argumente an, die Heribert Illig im obigen Text anführt. Im ersten Abschnitt geht er auf die Unsicherheiten bei Finsternissen ein. In Skeptiker 4/00 hatte Dieter Herrmann insbesondere zwei Finsternisse hervorgehoben, die u. a. von dem Bischof Hydatius in Portugal in den Jahren 418 und 447 beobachtet worden waren. Herrmanns Argumentation: Es hat außer diesen beiden — auch astronomisch berechneten — Finsternissen an diesem Ort nie wieder zwei Ereignisse im gleichen Abstand gegeben, sodass die zeitliche Zuordnung eindeutig ist. Nun hätte man wohl erwarten können, dass Illig hier erklärt, warum er die Hydatius-Beobachtungen nicht für stichhaltig hält. Stattdessen geht er aber auf Hydatius gar nicht ein, sondern schreibt sehr lange über ganz andere Finsternisse, die Dieter Herrmann zwar in einem Absatz (S. 185) erwähnt, aber sonst gar nicht weiter für seine Argumentation verwendet hat. Damit ist der größte Teil des Abschnittes „Die Unsicherheiten bei Finsternissen“ zwar nicht uninteressant, aber auch nicht sonderlich relevant für die eigentlich zur Diskussion stehende Frage und lenkt eher vom Thema ab. Hydatius taucht erst wieder in einem Nebensatz im vorletzten Absatz auf, in dem „Ungereimtheiten“ des Originaltextes erwähnt werden, die „ich dann aufgezeigt habe (vgl. Illig 2000)“. Leider ist auch Illigs Beitrag in seiner Zeitschrift Zeitensprünge, auf den er hier verweist, nur wenig aufschlussreicher: Von den insgesamt 18 Seiten handeln erst die letzten beiden Seiten von Hydatius, und die „Ungereimtheiten“ werden gerade in zwei Absätzen erwähnt. Der Hauptkritikpunkt ist nun, dass sich Hydatius bei den Antrittsjahren der Päpste seiner Zeit geirrt hat, ausgeführt in einem einzigen Satz: „Die Abweichungen liegen zwischen –2 und +4 Jahren, im Falle einer seltsamen Dublette bei Leo I. sogar bei +7 Jahren“. Dann heißt es lapidar: „Die Unwissenheit über die Papstjahre, selbst zur Lebenszeit des Bischofs und während der angeblichen Abfassung der Chronik, lässt dringend an eine hochmittelalterliche Chronikproduktion und an einen ‚Pseudo-Hydatius‘ denken“ — also eine Fälschung.

Eine den Ansprüchen historischer Forschung genügende Analyse des Originaltextes, bei der diese Behauptung detailliert durch entsprechende Originalzitate belegt und mit der zeitgenössischen Situation in Zusammenhang gebracht wird, ist dies nicht. Illig riskiert damit von Seiten der historischen Fachwelt mindestens den Vorwurf der groben Oberflächlichkeit. Bereits 1997 hatte der Historiker Rudolf Schieffer als ein „stets gleiches Muster“ von Illigs Quellenkritik erkannt, „zunächst im Namen des gesunden Menschenverstandes oder der vermeintlichen Sachlogik hohe (in Wahrheit anachronistische) Ansprüche an die Quellen zu stellen, um dann zu konstatieren, dass sie dem nicht genügen, vielmehr lückenhaft, widersprüchlich oder unglaubwürdig sind, mithin reif für die Diagnose, spätere Hirngespinste zu sein“ (Schieffer 1997). Dies Muster trifft auch hier zu: Ein Bischof kann sich doch nicht bei den Antrittsjahren der Päpste irren, oder? — Also muss es eine Fälschung sein!

Aber: Hydatius schrieb seine Chronik gegen Ende seines Lebens und stützte sich neben eigenen Erinnerungen und Aufzeichnungen auf eine Reihe von chronographischen und historischen Quellen seiner Zeit. Dabei verwendete er vier verschiedene, teilweise inkompatible Kalendersysteme, sodass seine Chronologie extrem kompliziert ist. Nun sagt uns Illig leider nicht, wie er die Antrittsdaten der Päpste aus der Chronik erhalten hat. Da er sich laut Literaturverzeichnis nur auf eine 150 Jahre alte Ausgabe der Chronik stützt (Migne 1850), hat er die Daten wohl dort abgeschrieben, und er muss sich damit fragen lassen, ob er dem aktuellen Forschungsstand eineinhalb Jahrhunderte nachhängt. Es ist zumindest merkwürdig, dass er das Standardwerk von Burgess (1993) nicht erwähnt, worin in akribischer Kleinarbeit die erhaltenen Manuskripte verglichen und die komplexe Chronologie mit umfangreichen erklärenden Kommentaren ausgearbeitet werden — ohne dass sich jene fundamentalen Widersprüche ergeben. Sicher, Hydatius „konnte Fehler machen, konnte sich irren, und manchmal hatte er ungenaue oder unvollständige Informationen“ (Burgess 1993, S. 31). Aber eine akribische Fehlerlosigkeit zu verlangen, wie es Illig tut, wäre ein Anachronismus: Hydatius war kein moderner Historiker, dem es um die möglichst neutrale, faktische Aufzählung von Ereignissen ging. Chroniken in der Spätantike waren vielmehr eine literarische Gattung, deren Ziel es war, die menschliche Geschichte in den Kontext einer Entwicklung von der biblischen Schöpfung zur Wiederkehr Jesu zu stellen — und es deutet einiges darauf, dass Hydatius „der Datierung historischer Ereig- nisse nicht die gleiche Bedeutung zugemessen haben mag wie wir es tun“ (Carr 1994), während ihm himmlische Zeichen wichtig waren.

Auf eine spätere Fälschung deutet also nichts. Selbst wenn wir Illigs Argumentation folgen, dann müssen wir wiederum ihn kritisch fragen: Warum sollte sich ein hochmittelalterlicher Fälscher (beauftragt u. a. von Papst Silvester II.!) in den Amtszeiten der Päpste irren? Wäre das nicht gerade eine Information, die er richtig auflisten würde, zumal er sich offenbar die Mühe machte, die Sonnenfinsternisse genau zu berechnen? Sprechen diese Irrtümer nicht eher gegen einen hochmittelalterlichen Fälscher, aber für einen spätantiken Chronisten in einer abgeschiedenen iberischen Provinzstadt, der mit konkurrierenden Kalendersystemen arbeiten musste?

Noch etwas anderes spricht für die Authentizität der Chronik: Die Sonnenfinsternisse werden auch von diversen anderen Quellen unabhängig von Hydatius berichtet. Obwohl dies von Herrmann ausführlich diskutiert wurde (Skeptiker 4/00 S. 185–187), macht sich Illig hier leider nicht die Mühe, auf diese für seine Behauptung sehr abträgliche Information einzugehen.

Ich denke allerdings, dass auch Herrmann in seinem Skeptiker-Text etwas Unmögliches versucht. Ein einzelnes Ereignis zu suchen, das die historische Chronologie an der Astronomie unzweifelhaft einhängt, dürfte zum Scheitern verurteilt sein. Viel stärker ist meiner Ansicht nach die Beobachtung, dass sich das ganze System von allen Sonnenfinsternissen und historischen Quellen zu einem stabilen Netz zusammenfügt. Die Geschichtswissenschaft weiß natürlich, dass jeder einzelnen Quelle mit Misstrauen zu begegnen ist — doch im Zusammenhang mit anderen Quellen ergibt sich ein solides Bild.

Kalenderfragen

 
Abb. 2: Die Ostertafeln des Beda Venerabilis (673/674–735) waren Jahrhunderte lang Grundlage der Gottesdienstordnung. Mit seinem Werk „De tempore rationes“ („Über die Zeitrechnung“) verhalf er der Zeitrechnung nach Anno Domini zum Durchbruch. Oder war der Gelehrte ebenso wie seine umfangreichen Werke eine Erfindung späterer Fälscher?

Der nächste Abschnitt über „Kalenderfragen“ enthält eine Diskussion über den Frühlingsanfang zu Cäsars Zeiten und zum Konzil von Nicäa (325 n. Chr.), und mancher Leser dürfte angesichts der Vielzahl der Daten ziemlich verwirrt sein. Dabei merkt man vielleicht nicht, dass auch dieser Abschnitt an der grundlegenden Frage des „erfundenen Mittelalters“ völlig vorbei geht und auf einem einfachen Irrtum beruht — darauf hat ihn Schieffer bereits aufmerksam gemacht. Die gregorianische Kalenderreform (1582) hatte gar nicht zum Ziel, irgendeinen von Cäsar oder vom Konzil in Nicäa verwendeten Frühlingspunkt wieder herzustellen — und damit sind Diskussionen darüber, welcher Frühlingspunkt in Nicäa oder von Cäsar verwendet wurde, völlig unnötig. Die gregorianische Kalenderreform sollte vielmehr folgendes Problem lösen: Auf dem Konzil von Nicäa war die allgemeine Regel eingeführt worden, das Osterfest auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond nach dem Frühlingsanfang zu legen. In der Spätantike und im Frühmittelalter wurden dann Ostertafeln erstellt, die das Datum des Festes für Jahrhunderte im Voraus berechneten. Gegen Ende des Mittelalters entsprachen jedoch diese (allgemein verbreiteten und vereinheitlichten) Ostertafeln nicht mehr der astronomischen Realität, sodass Ostern — für jeden sichtbar — nicht mehr auf einen Vollmond folgte. Diesen Mangel zu beheben war das Ziel der gregorianischen Reform.

Von Cäsar war dabei niemals die Rede, vielmehr musste der Kalender wieder der Situation angeglichen werden, die zur Entstehung der Ostertafeln herrschte — also der Spätantike. Ein Rückrechnung bis Cäsar kam Gregor nicht in den Sinn, das wäre eine Idee moderner Astronomen, nicht eines mittelalterlichen Papstes — wiederum eine anachronistische Vorstellung Illigs.

Hat aber Illig nicht recht, dass in der Spätantike, z. B. auch beim Konzil von Nicäa, eben kein einheitlicher Kalender existierte, auf den man zurück reformieren konnte? Ja, aber das ist nicht die Frage. Zwar geht die Osterregel auf das Konzil von Nicäa zurück, aber dass sie damals nicht konkret auf einheitliche Daten festgelegt werden konnte, ist irrelevant für die gregorianische Reform. Relevant ist nur, dass es zur Zeit der Reform, also über ein Jahrtausend später, längst einen einheitlichen Kalender und ein in der ganzen katholischen Welt einheitliches System von (aus der Spätantike stammenden) Ostertafeln gab, auf die man zurück reformieren musste. Dass es ein Jahrtausend zuvor auch andere, konkurrierende Ostertermine gegeben hatte, spielte längst keine Rolle mehr.

Damit ist der ganze Abschnitt „Kalenderfragen“ im obigen Text zwar nicht uninteressant, trägt aber überhaupt nichts zur Erhellung der Frage bei, ob das Mittelalter erfunden wurde — und das, obwohl die gregorianische Reform offenbar eines der zentralen Argumente ist, die Illig überhaupt erst auf diese Idee brachten. Dass die gregorianische Reform die Wiederherstellung „der Himmelskonstellation zu Cäsars Zeiten“ (Illig 1996) zum Ziel hatte, bleibt ein populärer Irrtum, auch wenn er von vielen Lexika und Astronomiebüchern verbreitet wird.

Die archäologische Grundlage

 
Abb. 3: Im Laufe des 6.–9. Jhs. änderte sich die von Gräbern mit Beigaben (hier eine um 650 verstorbene Frau aus Bülach, Zürich) zu beigabenlosen Begräbnissen (nach Fehring 2000).

Auf die angeblich „Fundleere“ in Städten wie Aachen, Köln oder Barcelona, die im Abschnitt „Die archäologische Grundlage“ behauptet wird, möchte ich nicht im Detail eingehen, da dies in jedem einzelnen Fall eine umfangreichere Diskussion erfordern würde — die geneigte Leserin oder der Leser ist aufgerufen, sich anhand der historischen und archäologischen Literatur selbst ein Bild zu machen und zu entscheiden, ob nicht eher die Einschätzung Rudolf Schieffers (1997) zutrifft: „Außerdem ist der archäologische Forschungsstand an der großen Mehrzahl der in Betracht kommenden Plätze gar nicht so, dass er Illigs Argumentation e silentio stützen könnte.“

Hinweisen möchte ich nur auf zwei Punkte. Illig nennt den Katalog der Ausstellung zu Paderborn, von der es hieß, „prachtvoller kann man Illigs Thesen nicht widerlegen“ — denn in Paderborn findet sich eine ununterbrochene Sequenz archäologischer Schichten, die den angeblich fehlenden Zeitraum umfasst. Auf den ersten Blick widerspricht Illig dieser Aussage im obigen Text — doch wer genauer liest, merkt, dass er ihr in Wirklichkeit nur ausweicht, indem er zwar aus dem Katalog zu dieser Ausstellung zitiert, dann aber gar nichts über Paderborn sagt, sondern geschickt den Blick auf Aachen wendet. Eine Beweislast-Umkehr: Er versucht, mit dem Verweis auf einzelne (in sei- nen Augen) fundleere Orte die Existenz anderer (fundreicher) Orte widerlegen — ein logischer Fehler. Wenn er sich schon auf Paderborn bezieht, wäre eine Diskussion der Fundsituation in Paderborn angebracht gewesen. Übrigens: Auch was Aachen angeht, so hat sich zu seiner „bislang von niemandem widerlegten Argumentation“ bereits Schieffer (1997) ablehnend geäußert mit dem Fazit: „Der Historiker wird schwerlich für diese Gedankengänge eingenommen.“

Als zweites möchte ich auf das aus dem Zusammenhang gerissene Zitat von Heinz Günter Horn hinweisen, in dem festgestellt wird, „Siedlungsfunde und -befunde des 5.–8. Jhs. sind äußerst selten. (...) Abermals traf man verschiedentlich wieder nur auf Friedhöfe jener Zeit.“ Besonders verwunderlich ist dies für Archäologen nicht, denn tatsächlich sind für die meisten Zeiten der Vergangenheit kaum Siedlungsspuren bekannt, sodass manche Perioden nur durch Bestattungen bekannt sind. Der Grund: Siedlungsspuren an der Oberfläche sind sehr schnell der Zerstörung unterworfen, zumal in Städten, in denen ältere Häuser stets abgerissen und durch neue Besiedlungen ersetzt werden. Merkwürdigerweise scheint es für Illig kein Problem zu sein, dass Begräbnisse aus dieser Zeit vorhanden sind — wo kamen denn diese Men- schen her, die in den angeblich fehlenden Jahrhunderten in so großer Zahl bestattet wurden?

Die Betrachtung der Grabsitten führt dabei auf eine grundsätzliche Frage. Während in der Spätantike und im Frühmittelalter Gräber meist mit Beigaben ausgestattet waren, war im 10. Jahrhundert bereits generell die beigabenlose Bestattung üblich — wobei die Ausbreitung der Sitte im Laufe des 6.–9. Jhs. über verschiedene Regionen nachzuzeichnen ist (Fehring 2000). Genau dieser Zeitraum fehlt aber laut Illig: Dann müsste sich also auch die Bestattungssitte in Wirklichkeit praktisch über Nacht im ganzen fränkischen Raum geändert haben? Und die Zeitfälscher haben sich später die Mühe gemacht, Hunderttausende von Gräbern in der richtigen Art anzulegen?

Dies ist nur ein Aspekt der grundlegenden kritischen Frage, die ebenfalls bereits von Rudolf Schieffer gestellt wurde: „Ob und wie sich der Gang der Geschichte nach dieser messerscharfen Amputation noch plausibel zusammenfügt, wird in dem Buch nur an einer Stelle erwogen (...) Von dieser einen Lappalie abgesehen bleibt der Autor indes jede Erklärung schuldig, wie eigentlich das Langobardenreich untergegangen und die byzantinische Macht aus wichtigen Teilen Italiens verschwunden ist, wie es zur Ausbreitung slawischer Völker bis zur Elbe und den Ostalpen, zum Vordringen der Bulgaren auf dem Balkan kam, vor allem aber, in welcher dunklen Nacht der Islam vom Himmel fiel, an den 614 noch niemand dachte, der aber 911 von Spanien bis Mittelasien herrschte“ (Schieffer 1997).

Ebenfalls unerfüllt bleibt die Neugier, wer eigentlich die groß angelegte Fälschungsaktion im Hochmittelalter durchführen konnte. Sicher, Urheber waren Otto III. (980–1002) und sein Freund Gerbert (Papst Silvester II.), aber warum sollten auch byzantinische, islamische und sogar chinesische Würdenträger ein Interesse gehabt haben, für den abendländischen Kaiser nicht nur Abertausende von Quellen zu fälschen und ganze Geschichtswerke und Philosophien neu zu erfinden, sondern auch noch Städte und Landschaften umzugraben, um spätere Archäologen zu täuschen? Und welche weltumspannende Bürokratie stellte damals sicher, dass sie sich dabei in den Details nicht widersprachen, sondern ein so konsistentes Geschichtsbild fälschten, dass die Fälschung erst von Illig entdeckt werden konnte?

Das Schweigen (?) der Historiker

Es sollte nun hinreichend klar sein, dass das „erfundene Mittelalter“ für die Geschichtswissenschaft keine fruchtbare These ist. Aber ist sie furchtbar? Für mich spricht aus dem Erfolg seiner Bücher zunächst einmal, dass ein großer Teil der Bevölkerung starkes Interesse an der Geschichtsforschung hat. Daher kann die Auseinandersetzung mit Illig für Wissenschaftler der didaktische Anlass sein, den tatsächlichen Wissensstand über das Mittelalter zu vermitteln und den kritische Umgang mit zunächst plausiblen Behauptungen zu schulen. Warum sind nun nur noch wenige Historiker bereit, sich dieser Auseinandersetzung zu stellen? Dieter Herrmann meint, Historiker sähen aus „Standesdünkel“ in „Illig einen unwissenschaftlichen Provokateur, mit dessen Auffassungen man sich nicht weiter herumschlagen müsse“ (Skeptiker 4/00, S. 182). Ich halte dies für ein unfairen Vorwurf, zumal sich tatsächlich mehrere Historiker fundiert und detailliert, aber deutlich zu seinen Thesen geäußert haben — aber inzwischen ebenfalls schweigen. Ich denke, für dieses „Verstummen“ gibt es verständliche Gründe. Zum einen hat kein Wissenschaftler Interesse, sich auf Dauer mit Thesen zu beschäftigen, die nicht weiterführen — es gibt so viele andere, interessante Fragestellungen in der Geschichtsforschung.

Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich ist z. B. der kritische Blick auf die Chronik des Hydatius ein wichtiges, wissenschaftliches Thema — aber Illigs Arbeitsweise ist so weit von einer modernen historischen Methodik entfernt, dass kein Beitrag zur Forschung erkennbar ist. Es ist schade, dass Illig seine Kenntnisse und Arbeitskraft so unproduktiv einsetzt: Würde er sich tatsächlich auf eine Quelle wie Hydatius konzentrieren und eine detaillierte, quellenkritische Studie vorlegen, die den modernen Forschungsstand berücksichtigt, würde er sich einige Anerkennung in der Wissenschaft erwerben. Solange er aber wichtige, gut untersuchte Quellen nach oberflächlicher Inspektion in wenigen Sätzen pauschal abqualifiziert, werden Historiker wenig Bereitschaft zeigen, ihn ernst zu nehmen. Zudem produziert er sehr viel Material, und auf wenigen Seiten reißt er so viele Themen an, dass eine detaillierte kritische Diskussion beispielsweise des obigen Textes wohl dieses ganze Skeptiker-Heft füllen würde. Selbst wenn man nur seine wichtigsten Argumente kritisch diskutiert, kann er immer noch auf „bisher nicht widerlegte Argumentation“ hinweisen (selbst wenn sie bereits anderswo längst widerlegt ist). Gleichzeitig bleibt mir stets der Eindruck, dass er den kritischen Fragen ausweicht — verständlich, dass einer der von uns um einen Artikel gebetenen Historiker ablehnte mit den Worten, die Diskussion drehe sich im Kreise, und aus wissenschaftlicher Sicht sei bereits alles gesagt.

Eine persönliche Einschätzung sei mir auch noch erlaubt. Ich fand Illigs Schreibstil sehr ermüdend und einer Diskussion durchaus abträglich: Wer sich über seine Argumente zur Chronik des Hydatius aus seinem „interdisziplinären Bulletin“ Zeitensprünge (Illig 2000) informieren möchte, möchte sich nicht erst durch 16 Seiten durcharbeiten müssen, in der er gar nichts über Hydatius erfährt, sondern sehr viel über Illig Kritiker Dieter Herrmann, Franz Krojer und Sepp Rothwangl, wobei diese mit Wendungen bedacht werden wie „Peinlichkeiten“, „entlarvten sich selbst“, „Misserfolge“, „unbedingter Wille zum Scheitern“, „Böswilligkeit vor Stichhaltigkeit“, „Hass kann auch das kleine Einmaleins erschweren“ oder „Unfähigkeit“ — um nur eine Auswahl aus den ersten vier (!) Seiten zu zitieren. Nun, zweifellos kann ein unerfreulicher Diskussionsstil kein Grund sein, seine Thesen abzulehnen, doch mag man Verständnis haben, wenn viele Wissenschaftler lieber nicht mit Kritik an die Öffentlichkeit treten wollen, um nicht in seiner nächsten Publikation ebenfalls „zwischen Unwissenschaftlichkeit und UFO-logie“ (Illig 2000 über seine Kritiker) eingeordnet zu werden.

Literatur

Burgess, R. W. (1993):
The Chronicle of Hydatius and the Consularia Constantinopolitana. Clarendon Press, Oxford
Carr, K. E. (1994):
Review of Burgess: The Chronicle of Hydatius and the Consularia Constantinopolitana. Bryn Mawr Classical Review 94.12.01
Fehring, G. (2000):
Die Archäologie des Mittelalters. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
Illig, H. (1996):
Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte. Econ, Düsseldorf
Illig, H. (2000):
Astromanie und Wissenschaft. D. Herrmann — F. Krojer — S. Rothwangl — W. Schlosser. Zeitensprünge 12 (4) 662–679, Mantis Verlag, Gräfelfing
Migne, J. P. (Hrsg.) (1850):
Idatii episcopi chronicon, Patrologia latina, 74, 703–750
Schieffer, R. (1997):
Ein Mittelalter ohne Karl den Großen, oder: Die Antworten sind jetzt einfach. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10/97, 611–617

Dieser Text erschien auch im Skeptiker 2/2001, dem Vereinsblatt der GWUP, im Zusammenhang einer kritischen Diskussion mit Heribert Illig und Dieter Herrmann über Illigs „Phantomzeit“-Hypothese.