Die in der Bibel beschriebene Beobachtung des Propheten Hesekiel von Feuerrädern und Figuren am Himmel hat zu vielen Spekulationen geführt. Präastronautiker sehen in ihr die Beschreibung eines außerirdischen Raumschiffs. Doch Geowissenschaftler schlagen nun vor, dass der Prophet vielleicht ein Polarlicht beobachtet haben könnte.

„Und ich sah: Und siehe, ein Sturmwind kam von Norden her, eine große Wolke und ein Feuer, das hin- und herzuckte, und Glanz war rings um sie her. Und aus seiner Mitte, aus der Mitte des Feuers, strahlte es wie der Anblick von glänzendem Metall“ (Hesekiel 1,4). Eine Beschreibung, die an ein Polarlicht, eine Aurora, erinnert, wie verschiedene Aurora-Spezialisten schon seit den 60-er Jahren anmerkten. Kürzlich diskutierten nun die Physiker George L. Siscoe, Samuel M. Silverman und Keith D. Siebert vom Center for Space Physics der Boston University diese Möglichkeit im Licht unseres aktuellen Wissenstandes. Fazit: „Eine biblische Aurora erscheint plausibel“, so der Titel ihrer Analyse in der Fachzeitschrift eos.

Auroras entstehen, wenn geladene Teilchen von der Sonne entlang der Magnetlinien des Erdmagnetfeldes in die Atmosphäre eindringen, vor allem nahe der magnetischen Pole der Erde. Besonders ausgeprägt sind sie während so genannter Magnetstürme in Zeiten starker Sonnenaktivität. „Natürlich sind auch andere Interpretationen vorgeschlagen worden, unter anderem eine wahre Gotteserscheinung, ein Sandsturm, ein Tornado, ein Sonnenhalo, eine Halluzination oder ein UFO“, erklären die Autoren in der Einleitung. Eine definitive Erklärung dieser 2600 Jahre alten Sichtung sei auch durch ihre Arbeit nicht möglich, doch könne man nun die wesentlichen Gegenargumente gegen die Polarlicht-Hypothese zurückweisen.

Zunächst ist zu fragen, ob Polarlichter überhaupt so fern der Pole auftreten. Hesekiel soll, so die historische Bibelforschung, die Erscheinung um 593 v. u. Z. nahe Nippur, 100 km südlich von Babylon etwa auf dem 32. Breitengrad und dem 45. östlichen Längengrad, gesehen haben — heute sind dort Polarlichter praktisch ausgeschlossen. Zwar wurden bei einem Magnetsturm 1859 in Amerika Auroras selbst in Savannah, Georgia, auf dem gleichen Breitengrad gesichtet. Doch der magnetische Nordpol der Erde liegt in Grönland, also viel näher am amerikanischen Savannah als am babylonischen Nippur, sodass Auroras in Amerika weiter südlich auftreten können als in Asien.

Nun kann man aber durch magnetische Messungen in Gesteinen nachweisen, dass der Magnetpol vor 2600 Jahren 115 Grad weiter östlich auf etwa dem gleichen Längengrad wie Babylonien lag — nahe genug für gelegentliche Polarlichter in Hesekiels Heimat. Ein weiterer Einwand betrifft die Stärke des Magnetfeldes: Es war vor 2600 Jahren etwa 50% stärker als heute. Daher wurde meist angenommen, dass sich die Auroras viel stärker auf die Nähe der Pole konzentrierten als heute. Diese Vermutung ist jedoch falsch, wie sich durch neuere und komplexere Computersimulationen zeigen lässt, die auch indirekte Effekte des Feldes auf die Leitfähigkeit der Atmosphäre berücksichtigen. Tatsächlich macht das damalige stärkere Magnetfeld Auroras in Babylon wahrscheinlicher. Und die Aktivität der Sonne, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Schwankungen unterworfen und oft für mehrere Jahrzehnte sehr gering war? Während eines Aktivitätsminimums wären Auroras, zumal so weit südlich, ebenfalls ausgeschlossen. Die Sonnenaktivität der Vergangenheit lässt sich rekonstruieren: Die Entstehung des radioaktiven Kohlenstoffisotops C-14 in der Atmosphäre hängt von der Sonnenaktivität ab. Dieses Isotop ist auch Grundlage der Radiokarbondatierung von organischem Material. Wenn man nun die C-14-Altersdaten mit Altersdaten aus anderen Quellen, etwa Jahresringzählungen an Bäumen, vergleicht, so findet man, dass die Daten nicht genau übereinstimmen — und aus diesen Abweichungen lässt sich der C-14-Gehalt der Atmosphäre und damit auch die Sonnenaktivität der Vergangenheit rekonstruieren.

Das Ergebnis: Im 9. Jahrhundert v. u. Z. begann ein sehr starkes und sehr langes Aktivitätsminimum, dem J. A. Eddy 1976 den Namen „Homerisches Minimum“ gab. Doch ab der Mitte des 8. Jahrhunderts nahm die Aktivität wieder zu, und das Ende des Minimums war 640 erreicht, also gute 40 Jahre vor Hesekiels Vision. Erst etwa 200 Jahre später begann wieder ein starkes Minimum, das „Griechische Minimum“. Damit sind alle wesentlichen geophysikalischen Einwände gegen das Vorkommen von Auroras zu Hesekiels Zeiten entkräftet. „Kann also die Vision am Anfang des Buches Hesekiel von einer Aurora-Erscheinung inspiriert worden sein?“, fragen die Autoren. Die Widerlegung der Gegenargumente „könne zwar keinesfalls eine Aurora-Interpretation von Hesekiels Vision beweisen, doch ihre Befürworter können mit einiger Rechtfertigung die Maxime äußern: ‚Was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker‘.“

Literatur

  • Siscoe, George L.; Silverman, Samuel M.; Siebert, Keith D. (2002): Ezekiel and the Northern Lights: Biblical Aurora Seems Plausible. eos, 83 (16), S. 173, 179.